Pressespiegel
Der Platanenhain auf der Mathildenhöhe ist abgängig
Da die Stadt Darmstadt und das Land Hessen das Jugendstilensemble der Unesco als Ort eines unvergleichlichen Aufbruchs in die Moderne präsentieren wollen, gibt es die Sorge, dass eine altertümlich erscheinende Russische Kapelle nur schlecht in dieses Gesamtbild passt. Doch Stilreinheit, und das wissen wir spätestens seit der Kunsthistoriker Max Dvořák 1918 seinen Katechismus der Denkmalpflege veröffentlichte, ist kein Ziel der Denkmalpflege. Die Russische Kapelle stellt somit genausowenig einen Fremdkörper im städtebaulichen Jugendstilensemble dar wie der, nach den Kriegen, hinzugekommene Bau des Ledigenheimes von Ernst Neufert am Aufgang zur Mathildenhöhe an der Pützerstraße. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein städtebauliches Kontinuum.
Es war Joseph Maria Olbrich der in seiner Planung von 1901 erstmals die gestalterische Absicht ausdrückt, der russischen Kapelle einen Resonanzraum in Form eines Vorplatzes mit Brunnen zu verleihen und dieses architektonische Paar aus Bauwerk und Brunnen dadurch aufzuwerten, dass er den Nikolaiweg in einer großen Geste trompetenförmig öffnet, um exakt vom Öffnungspunkt aus eine Symmetrieachse als Blickbeziehung zur Kapelle einzuzeichnen. Die Aura, der immaterielle Kern im Sinne der vierten These des Welterbemanuals der deutschen UNESCO-Kommission, der für die Atmosphäre des Ortes so entscheidend und bis Anfang der 1960er Jahre in seinen Grundzügen unversehrt geblieben war, wird in dieser Planung erstmals offensichtlich. “Das Wasserbecken vor der Kapelle sollte diesen Fremdkörper in das Jugendstil-Ensemble einbinden“ Scorzin, 1999/2004, die Blickbeziehung sollte diese Einbindung bereits von weitem kommend deutlich werden lassen. Neben dem Platanenhain wurde der Brunnen als Olbrichs Idee durch Albin Müllers Verwirklichung und der Ausgestaltung des Bassins durch Bernhard Hoetger zum Lilienbecken eines der wichtigsten Elemente im Jugendstilensemble auf der Mathildenhöhe. Nicht die Kapelle ist also ein Teil des Aufbruchs in die Moderne, wohl aber die gestalterische Leistung von Größen wie Joseph Maria Olbrich, Bernhard Hoetger und Albin Müller, dieses als Fremdkörper empfundene Bauwerk in einen zeitgenössischen Kontext zu integrieren.
Die erfolgreiche Einbindung der Kapelle, die nunmehr laut Zeitgenossen Fuchs (1901) „nicht allzu störend“ empfunden wurde, obwohl Schmuck und Kuppeln aus „archaischer Formen-Sprache“ zu stammen scheinen, die in Fuchs Ausführungen als einer „wenig für eine Kirche geeigneten [Zutat]“ gebrandmarkt wurde, zeigt, dass sich das ambivalente Verhältnis der Darmstädter zu ihrer russischen Kapelle auf der Mathildenhöhe von damals bis heute nicht verändert hat.
Denkmalpflege kann letzten Endes aber immer nur das vollbringen, was im Rahmen eines gesellschaftlichen Kontextes möglich ist, bzw. woran sich die Gesellschaft erinnern lassen will – oder auch nicht will. Fakt bleibt, dass es ohne die großherzögliche Vision eines Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt nie zu diesem einmaligen Jugendstilensemble gekommen wäre. Und es bleibt nicht ohne innere Widersprüchlichkeit, dass ausgerechnet ein zwar aufgeklärter, aber eben doch einer archaischen Gesellschaftsordnung entsprungener Aristokrat in Darmstadt und darüber hinaus ausstrahlend den Sprung in die Moderne wagte.
Am Ende steht als gartendenkmalpfelgerisches Ergebnis ein Zielplan, der sich in der Abwägung seiner miteinander konkurrierenden Denkmalwerte sehen lassen kann und die Mathildenhöhe als wichtiges Zeugnis des Jugendstils für die Zukunft wird bewahren können.
Veröffentlicht am:
31.03.2017
Autor:
Rainer Hein
Herausgeber:
Frankfurther Allgemeinen Zeitung
Stichworte:
Darmstadt, Dvorák, Mathildenhöhe, Parkanlage, Platanenhain, Zielplan
Optionen:
PDF herunterladen